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Der Wunschbaum
Es ist der vierte Advent und jetzt sitzt sie also hier, mit einer Kiste voll Weihnachtsschmuck, aber ohne Mann. Was macht man mit fünfundzwanzig roten und ebenso vielen goldenen Kugeln, wenn man niemanden hat, für den man sie aufhängen kann? Denn wozu soll sie einen Weihnachtsbaum schmücken, wenn doch Hermann, mit dem sie sechsunddreißig Weihnachtsabende verbracht hat, mit einer viel zu vollbusigen, viel zu jungen Frau an der Costa Smeralda sitzt? (Sie hat ein Bild von ihr auf Facebook gesehen. Im roten Bikini klebte sie auf seinem Schoß und verdeckte seinen Bauch.) „Ach Mama“, versuchte ihre Tochter zu trösten, als sie ihr wutentbrannt davon erzählte. „Was brauchst du in deinem Alter noch Männer? Du kommst doch gut allein zurecht.“ „Und wie soll ich Weihnachten feiern?“, entgegnete sie. „Es ist ja keiner da!“ „Geh doch in die Kirche“, antwortete ihre Tochter und klang, als sei sie in Eile. „Das gefiel dir früher doch auch ...“ Früher hatte ich auch zwei Kleinkinder, die das Krippenspiel liebten, wollte sie erwidern, aber da hatte ihre Tochter schon aufgelegt.
Berta schnauft. Kirche! Die alten Männer angeln sich junge Dinger und was bleibt für die alten Frauen? Die Kirche. Ha! Dass ich nicht lache! Ihr graust bei dem Gedanken, zu einer dieser Veranstaltungen zu gehen, die in ihrer Gemeinde angeboten werden. „Weihnachten für Einsame“. Da kann man sich ja gleich einen Aufkleber an die Brust pinnen: „Ich bin gescheitert.“ Nein, so etwas kommt für sie nicht in Frage. Sie will sich nicht arrangieren mit ihrem Unglück. „Ich will einen Mann“, sagt Berta und hört sich selbst erstaunt zu. Aber da sie es nun einmal ausgesprochen hat, merkt sie, dass es stimmt. Sie will mit vierundsechzig noch nicht liebesberentet sein. Dann fange ich eben noch einmal an, sagt sie trotzig, und packt die Kugeln zurück in die Kiste. Sie müssen weg, die alten Kugeln und der restliche Klimbim, die Sterne und die Rauschgoldengel, und die Muranoglasanhänger, die ihr Hermann damals von seiner Italienreise mitgebracht hatte, erst recht. Berta denkt einen Moment nach. Zum Wegwerfen sind sie zu schade. Sie könnte die ganze Kiste auf den Markt stellen, das machen neuerdings viele so. Irgendwer nimmt immer etwas mit. Keuchend hievt sie alles die Treppe runter und schleppt die Kiste durch die Straßen, bis sie schließlich auf dem Marktplatz vor der großen Tanne steht. Stimmt, denkt sie, hier steht ja auch ein Weihnachtsbaum. Kahl sieht er aus mit seiner nackten Lichterkette. Berta hat sich schon immer gefragt, warum die Stadt zwar das Geld für einen Weihnachtsbaum aufbringt, es dann aber versäumt, ihn vernünftig zu schmücken. Einen Moment erwägt sie, ihn selbst zu schmücken, aber dann fällt ihr etwas Besseres ein. Sie zieht einen roten Pappstern aus dem Karton, kramt in ihrer Handtasche nach einem Stift und schreibt in großen Buchstaben „Ich wünsche mir einen Mann“. Dann hängt sie den Stern an den Baum und betrachtet zufrieden ihr Werk. Den Rest lässt sie stehen und geht nach Hause.
In dieser Nacht schläft sie zum ersten Mal seit Monaten traumlos und gut. Am nächsten Tag putzt sie die Wohnung, Mittwoch fährt sie zu einer alten Freundin aufs Land und als sie Donnerstag einkaufen geht, hat sie den Baum und ihren Stern längst vergessen. Als sie mit ihrer Einkaufstasche zum Markt kommt, traut sie ihren Augen nicht. Der Baum! Er ist über und über mit Zetteln behängt. Es gibt ausgeschnittene Sterne in rot und gelb und pink und irgendjemand hat sogar eine Krone
gebastelt. Auf den Sternen haben Leute ihre Wünsche hinterlassen. „Ich wünsche mir ein Pferd“, liest Berta. Darunter hat ein anderer geschrieben: „Ich habe ein Pferd. Wenn du willst, kannst du bei mir reiten.“ Daneben steht eine Telefonnummer. Wie nett, denkt Berta, und greift nach einem weiteren Zettel: „Ich möchte einmal eine Weihnachtsgans probieren. Aber sie ist zu teuer.“ Übermütig holt Berta ihren Stift heraus. „Wenn es weiter nichts ist: Kommen Sie zu mir.“ Und auch sie notiert ihre Nummer daneben. „Ich wünsche mir eine Oma“, liest sie und: „Ich bin eine Oma. Wollen wir uns treffen?“ „Ich spiele so gern Rommé. Aber meine Mitspieler sind alle schon tot. Ich wünsche mir neue Freunde.“ Drei Namen stehen bereits darunter. Es gibt Wünsche nach Fahrrädern, Hasen, einer schlankeren Taille, einem neuen Anfang, nach einem Kind, nach einer Wohnung mit Badewanne, einer Zwei in Mathe, nach Frieden in der Heimat, nach englischen Pralinen, einem Wochenende in den Bergen und vielem mehr.
Da entdeckt Berta ihren eigenen Stern wieder. In schwarzen Buchstaben hat jemand etwas dazu gesetzt: „Wie alt sind Sie? Und wie sehen Sie aus?“ Sie schreibt: „Ich bin vierundsechzig und sehe blendend aus (glauben Sie, ich würde etwas anderes sagen?)“ Ein zweites Mal gibt sie ihre Telefonnummer preis und stößt einen kleinen Juchzer aus, weil alles so aufregend ist. Lauter fröhliche Menschen stehen um sie herum. „Ist das nicht wunderbar?“, lächelt eine rotbemützte Frau. „Das ist besser als jeder Weihnachtseinkauf, das ist ein Weihnachtswunder. Wer das angezettelt hat, muss ein Engel sein!“ Erstaunt bemerkt Berta, dass die Augen der Frau feucht sind.
Berta, Berta, denkt sie, was hast du da bloß angerichtet. Und errötet ein bisschen.
Aus: Susanne Niemeyer, Jesus klingt, Neue Weihnachtsgeschichten, S. 54-58
Mit dieser Weihnachtsgeschichte grüße ich Sie herzlich und wünsche eine gesegnete Adventszeit und frohe Weihnachtstage.
Wer weiß, welches Weihnachtswunder uns in diesem Jahr erwartet?
Auf ein baldiges Wiedersehen!
Ihr Pfarrer
Ralf Schultz
Sprechzeiten im Pfarramt Brücken nach Vereinbarung
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